10. Juli 2007

"Deutschland? Aber wo liegt es?"

Die zentrale Stelle an der dreiseitigen Fassade des nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebauten bzw. restaurierten Burgtheaters in Wien besetzen die Büsten (v. l. n. r.) Lessings, Goethes und Schillers. Am linken Seitenflügel der Fassade sind Calderón, Shakespeare und Molière, am rechten Seitenflügel Hebbel, Grillparzer und Friedrich Halm abgebildet. Im Mittelpunkt befinden sich also drei Deutsche; links drei nicht-deutschsprachige Ausländer; und rechts zwei Österreicher - Halm wurde im damals kurzfristig habsburgischen Krakau geboren und wuchs schon in Wien auf - sowie ein "Deutscher" (Friedrich Hebbel), der zwar dänischer Untertan war, aber immerhin die zweite Hälfte seines Erwachsenenlebens in Wien verbrachte und in diesem Zusammenhang als Österreicher zählt.

In Anbetracht der zahlreichen Bemühungen, Österreich sogar in sprachlicher Hinsicht von Deutschland abzugrenzen, erscheint es eher merkwürdig, dass gerade drei Deutschen diese Ehre im Mittelpunkt der Fassade des wohl wichtigsten Theaters in Österreich erwiesen wird. Läge es nicht näher, die Büsten der drei Deutschen an den weniger sichtbaren rechten Seitenflügel zu verlegen, wo sie - dem österreichischen Narrativ entsprechend - mit den drei Ausländern am linken Seitenflügel gleichgesetzt würden? Und wäre es nicht zu erwarten, dass gerade die österreichischen Dichter nach vorne gebracht werden?

Es scheint eher unwahrscheinlich, dass sich auch im Falle des restauierten Burgtheaters die Tendenz zur Entkontextualisierung manifestiert. Nur scheinbar kann damit, wie am Ende dieses Beitrages verständlich wird, die "Verösterreichischung" des aus Dithmarschen (im heutigen Bundesland Schleswig-Holstein) gebürtigen Hebbels erklärt werden. Noch weniger trifft diese Erklärungsmöglichkeit auf die anderen Schwierigkeiten zu, die die Fassade aufzuweisen weiß: Eine entkontextualisierte Aneignung der drei "Titaten" deutscher Dichtung wäre einfach zu weit hergeholt, um irgendwie noch hingenommen werden zu können. Zudem wäre damit die ausgesprochene Marginalisierung der zwei bzw. drei Österreicher kaum erklärt.

Es kann aber auch sein, dass die Grenzen gar nicht so klar verlaufen, wie die Political Correctness es suggeriert. Vielleicht sind die Büsten der drei deutschen Dichter gerade in Wien am Platze: Sie wurden ja alle im Alten Reich geboren; dort - weder in der Zweiten Republik noch in der BRD - wuchsen sie auf, studierten und arbeiteten sie an ihren Texten; zwei von ihnen, nämlich Lessing und Schiller, starben noch in diesem Reich, dessen Bedeutung zwar längst verschwommen war, das aber weit länger bestand als alle anderen politischen Gefüge im deutschsprachigen Mitteleuropa - einschließlich der heutigen. Wenn diese Dichter an Deutschland dachten und in ihren kanonischen Texten darüber schrieben, stellten sie sich nichts anderes vor als dieses erste Reich, dessen damalige Kaiser in Wien residierten. Gäbe es für ihre so repräsentativen Büsten eine bessere Lage als den Mittelpunkt der restauierten Fassade des wichtigsten Theaters dieser ehemaligen Residenzstadt?

Die eigentliche Frage lautet also nicht, was die drei Deutschen an dieser Stelle zu suchen haben, sondern wie plausibel das Selbstverständnis der Zweiten Republik sein kann, wenn es die Fassade des wichtigsten Theaters dieser Republik so erklärungsbedürftig erscheinen lässt. An diesem Beispiel wird erkennbar, dass das heute bereits weit verberitete Vorstellung von Österreich als einem Nationalstaat, der "Deutschland" gegenüberzustellen ist, eine noch relativ junge Erscheinung ist.

In der Ersten Republik, die noch als "zweiter deutscher Staat" verstanden wurde, konnte sich diese Vorstellung nicht durchsetzen. Erst durch die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gewann sie an Anziehungskraft: Angesichts des militärischen Verlustes und der Angst vor dem drohenden Schicksal der Deutschen erschien die Vorstellung vom streng abgegrenzten Österreich nunmehr sehr nützlich. Der politisch bedingte Wille zur Distanzierung von Deutschland war so groß, dass Felix Hurdes, der erste Bundesminister für Unterricht, die Schulfachbezeichnung "Deutsch" durch "Unterrichtssprache" ersetzen ließ. Aus dieser anfänglichen Not ist ein neues Selbstverständis entstanden, das auch auf die Vergangenheit projiziert wurde - und eigentlich noch immer wird. Wie tragfähig dieses Narrativ ist, kann man an der Fassade des Burgtheaters ablesen: Österreich ist zwar von der BRD abgegrenzt, doch ins überstaatliche Deutschlanderbe findet es sich nach wie vor verwoben.

Vor diesem Hintergrund wird nun erklärlich, warum auch im scheinbar klaren Fall des dänischen Untertanen Hebber doch nicht von Entkontextualisierung die Rede sein kann: Ende des 19. Jahrhundert, als das Hofburgtheater am Wiener Ring erbaut wurde, gab es im damals kaiserlich-königlichen Wien noch keine Abgrenzungswünsche, sodass seine Zuordnung zu den Wiener Dichtern gar kein Problem darstellte; und ohnehin war Hebbers Geburtsort schon unter deutscher bzw. preußischer Herrschaft, nachdem österreichische und preußische Truppen 1867 Schleswig und Teile Holsteins erobert hatten.

Zum Schluss kann man also sagen, dass die Fassade des Burgtheaters dreierlei Ehrerbietung aufweist: in nationaler Hinsicht an die "gesamtdeutschen" bzw. schlicht deutschen Dichter im Mittelteil; in regionaler Hinsicht an die Wiener Dichter am rechten Seitenflügel; und schließlich auch in europäischer (damals globaler) Hinsicht an die ausländischen, anderssprachigen Dichter am linken Seitenflügel.

Keine Kommentare: